Artikel: Das verlorene Erbe des Eisenbahnkönigs
Alte Bahnhöfe, stillgelegte Strecken, Werke im Ruhestand: die verlassenen Orte der DB. Einige werden wiederbelebt, andere zu historischen Stätten. Um viele ranken sich Geschichten – geheimnisvoll und spannend. Auch der ehemalige Görlitzer Bahnhof in Berlin gehört dazu.
Langsam füllt sich der Park an diesem Kreuzberger Oktobersonntag. Paare genießen die vielleicht letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres, Waffelduft weht vom Kinderbauernhof herüber, auf dem Fußballplatz nebenan explodiert der Jubel nach einem Tor.
Wo heute der typische Kreuzberger Mix aus Familien, Hipstern und Druffis Erholung sucht, befand sich einst der Görlitzer Bahnhof. Der 1866 in Betrieb genommene Kopfbahnhof war Endpunkt der Berlin-Görlitzer Eisenbahn, einer vom „Eisenbahnkönig“ Bethel Henry Strousberg (1823-1884) gebauten Privatbahnlinie, die Berlin über Cottbus mit Görlitz verband.
Der Görlitzer Bahnhof selbst war schnell beliebt: Im Jahr 1880 sollen bis zu anderthalb Millionen Menschen hier ihre Reise begonnen haben. Indirekt ist er bis heute prägend für Kreuzberg: 1867 nahm die Stadtpost-Expedition Nr. 36 im Bahnhof den Dienst auf. Sie gab dem Stadtteil später seinen Namen: Die Begriffe „Kreuzberg 36“ und „SO36“ sind bis heute zum Mythos und geradezu zur Chiffre für einen alternativen Lifestyle geworden.
Die Sprengung des Görlitzer Bahnhofs
Doch der Anfang vom Ende des Görlitzer Bahnhofs kam relativ bald. Im April 1945 war er Schauplatz heftiger Kämpfe in der Schlacht um Berlin. Das im Neorenaissancestil errichtete Bahnhofsgebäude wurde schwer beschädigt. Sechs Jahre später wurde mit dem letzten Vorortzug nach Königs Wusterhausen der Personenverkehr eingestellt, der Bahnhof verkam zusehends und wurde zwischen 1961 und 1967 schrittweise abgerissen. Anschließend verkehrten auf den Gleisen noch Güterzüge, doch 1985 war Schluss: Die letzte Verbindung wurde eingestellt. Heute erinnert nur noch der nahegelegene U-Bahnhof gleichen Namens an den Görlitzer Bahnhof. Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre wurde auf dem ehemaligen Bahngelände schließlich der Görlitzer Park angelegt.
Die ehemaligen Güterschuppen
Doch was ist geblieben vom einst prächtigen Görlitzer Bahnhof? Beim Spaziergang fallen vor allem die ehemaligen Güterschuppen im Nordwesten des Parks auf. Die einzigen noch heute an den Bahnhof erinnernden Gebäude werden zum Teil gewerblich genutzt. Ihre einladenden Stufen sind im Sommer ein beliebter Ort, um die Sonne zu genießen, Graffiti und Streetart laden zur Wimmelbild-Suche ein.
Die ehemalige Unterführung
Weiter Richtung Süden, vorbei an einer Verkehrsschule und einem „Ganzjahresbolzplatz“, durchquert man bald einen kreisrunden Krater, das Herzstück des Görlitzer Parks: Die „Kuhle oder Mulde“ wurde vom Local Hero PR Kantate bereits 2003 in seiner Liebeserklärung an den Park, dem Song „Görli, Görli“, besungen. Hier erstreckte sich bis 1989 eine 170 lange Unterquerung des Bahnhofsgeländes, von der noch Überreste erhalten sind. Pikantes Detail: Der Tunnel ist auch unter dem Namen „Harnröhre“ bekannt – angeblich, weil der Gestank im Inneren so erbärmlich war.
Die alte Bahnbrücke
Das nächste Zeugnis des einstigen Görlitzer Bahnhofs befindet sich am Südende des Parks: Von den ehemaligen Eisenbahnbrücken über den Landwehrkanal existiert noch eine, heute als Fußgängerbrücke. Zu ihrer Rechten, wo früher ein Lokschuppen mit Drehscheibe stand, erhebt sich jetzt ein Hügel, von dem man einen wundervollen Blick über den Park hat – den unvermeidlichen Fernsehturm inklusive.
Der ehemalige Bahndamm
Direkt hinter der Brücke empfangen einen die rostigen Überbleibsel einer Beschaubrücke. Von dieser aus kontrollierten Truppen der DDR grenzüberschreitende Züge zwischen den Stadtteilen Kreuzberg und Treptow – Geschichte hautnah. Die Spurensuche endet auf dem ehemaligen Bahndamm Richtung Osten. Heute trifft man hier vor allem Spaziergänger:innen, Jogger:innen und Radler:innen. Doch wer aufmerksam hinschaut, kann auch Reste von alten Gleisen und einen Meilenstein entdecken – die letzten Spuren des Vermächtnis des Eisenbahnkönigs rund um den Görlitzer Bahnhof.
Viel ist es nicht, das heute noch an den alten Kopfbahnhof erinnert. Anders als beim Schöneberger Südgelände hat man die Bahn-Vergangenheit des Görlitzer Parks nur sehr sporadisch in das Areal integriert. Das ist bedauerlich, aber vielleicht einfach eine Frage des damaligen Zeitgeistes. Doch wenn auch der Görlitzer Bahnhof im wahrsten Sinne des Wortes ein Lost Place ist – der aus seinen Ruinen entstandene Park ist es trotz aller Kriminalitätsprobleme, die ihn seit Jahren begleiten, keineswegs. Denn eins ist klar: Die Menschen im Kiez lieben ihn, ihren Görli. Und das nicht nur an diesem prächtigen Herbsttag.